
Heute gibt es mal ein kleines Stückchen Prosa – nicht ganz neu aber auch nicht ganz alt. Für den NordMord-Award hatte es leider nicht gereicht. Die angegebenen Internet-Links sind natürlich reine Fiktion und führen ins Leere.
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9. oder 10. Mai 2011
Es sind große Buchstaben. Größer als gewohnt. Sönkes Augen schmerzen, als säße er im Kino nur zehn Zentimeter vor der Leinwand. Er zittert. Was soll er nur machen? Durch das offene Fenster seines Büros erklingt das Klimpern der Fahnenmasten an der Strandpromenade. Es riecht nach gerade aufgeblühten Wildrosen. Für Sönke gibt es kein Urlaubsidyll, noch nicht einmal das ihn umgebende Büro. Alles ist vor ein paar Sekunden unwichtig geworden. Wann hatte Hanna angerufen und ihn zum Essen gerufen. Er hat kein Zeitgefühl mehr. „Flammkuchen mit Brokkoli“ hatte sie gesagt. „Ohne Speck oder Schinken“ hatte sie nicht gesagt, aber er wusste es auch so. Sönke ist Karnivor. Das Wort hat er vor einigen Tagen in seiner Hausarztpraxis beim Durchblättern der Zeitschrift „Fleisch“ entdeckt. Er verabscheut Brokkoli, hatte sich aber wegen Hanna trotzdem darauf gefreut. Auch sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, seit er sie vor fünf Jahren aus der Ostsee gezogen hat. Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden hatte er nach dem Telefon getastet und fahrig die Kurzwahl 1 gedrückt. „Ja, hallo Hanna, Sönke hier. Du, nicht böse sein, aber ich komme heute nicht zum Essen nach Hause. Tut mir leid, ich rufe Dich später wieder an.“ Ohne eine Antwort abzuwarten hatte er aufgelegt. Jetzt vergräbt er den Kopf in seinen Händen. Draußen wird es langsam dunkel. Oder wurde es schon wieder hell? Die weißen Wände des Raumes schimmern rosa. Um den Kopf freizubekommen geht Sönke zum Fenster, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Er schüttelt den Kopf. Am Himmel sind nur dunkle Wolken zu sehen. Der rote Schein komtt statt dessen von den riesigen Buchstaben auf seinem nagelneuen LCD-Bildschirm. Er dreht sich um und starrt wieder auf die zwei Worte, die alles verändern. Nichts wird je wieder so sein, wie es war. Er weiß nicht, wie es nun weiter gehen soll. Das Telefon gibt eine wirre Tonfolge von sich. „Fusion Haze“ heißt der Klingelton. Unerträglich. Sönke wirft einen Blick auf das Display. Hanna muss warten. Sie würde es eh nicht verstehen. Wie sollte sie auch? Er setzt sich wieder an den Schreibtisch und schaltet den Bildschirm aus. Doch die Buchstaben brennen auf seiner Netzhaut weiter. Es ist zu spät und es ist unwiderruflich. Apathisch hämmert er die beiden Worte immer wieder in die Tastatur.
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Seine Finger rutschen von der Tastatur, seine Hände rutschen vom Schreibtisch, sein Körper rutscht vom Stuhl. Noch bevor er mit dem Kopf auf dem Linoleumboden aufschlägt, rutscht auch sein Bewusstsein ins Leere.
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12. August 2006
Heute war sein großer Tag. Er hatte es endlich geschafft. Sönke stand stolz auf der Gangway zu seinem Schiff und sah hinab auf das bunte Treiben entlang der Strandpromenade. „Ostsee in Flammen“ stand wie jedes Jahr auf dem Programm. Die Vorfreude steckte alle an. Einheimische, Touristen, Senioren, Kinder, Organisatoren und Sponsoren. Auch Sönke spürte das Kribbeln. Aber noch war es nicht so weit. Noch brannte die heiße Augustsonne vom Himmel. Erst um 23 Uhr würde das „schönste und spektakulärste Höhenfeuerwerk des Nordens“ gezündet werden. Für Sönke passte alles zusammen. Ein wenig hatte er das Gefühl, dass das Fest auch ein bisschen für ihn stattfand. Erst gestern kam er als frischgebackener hauptberuflicher Seenotretter nach Grömitz und stand nun vor seinem ersten Einsatztag auf dem 27-Meter-Seenotkreuzer. Er dachte zurück an all die Jahre, in denen er als kleiner Junge jedes Jahr mit dem elterlichen Wohnwagen nach Grömitz gekommen war. Schon wenn in der damaligen Wohnung in Celle die Koffer gepackt wurden, stand er schon früh morgens mit seinem gelben Pumuckl-Rucksack, vollgepackt mit Schaufeln, Förmchen und Spielzeugbaggern, an der Tür und konnte es nicht abwarten, bis alles im Auto verstaut war und es endlich losgehen konnte. Als er älter wurde, kam er mit Tanja, seiner ersten Jugendliebe, wieder hierher. Und immer wieder zog es ihn zu den grün-orangen Schiffen der Seenotrettung. Er konnte stundenlang auf der Bank am Kai sitzen und dem geschäftigen Treiben auf dem Boot zuschauen. Und wenn die „Bremen“ auslief, fuhr er in seiner Phantasie mit und stellte sich die Dramen vor, die draußen auf See abliefen. Und wenn das Schiff wieder einlief konnte er aus den Gesichtern der Besatzung den Ausgang ablesen. Und seit heute war er nun dabei. Er zog das zerknitterte Foto seiner Eltern aus der Brusttasche des roten Overalls und betrachtete es mit einer Mischung aus Freude und Trauer. Sie waren vor drei Jahren bei einem Segelunfall ums Leben gekommen und wurden nie gefunden. Das war damals der Tag, an dem für Sönke klar wurde, dass es für ihn nur einen einzigen Weg gab. Noch vor der Trauerfeier hatte er Kontakt zu den Seenotrettern aufgenommen und seine Koffer gepackt.
Eine schrille Sirene schreckte ihn aus seinen Erinnerungen. Ein Notruf. Sein Herz pochte bis zum Hals. Es ging los. „Leinen los“, hörte er sich rufen und nun war alles in ihm reine Konzentration.
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8. Mai 2011
Hanna saß ihm gegenüber am Kiefernesstisch ihrer gemütlichen, schwedisch eingerichteten Zweizimmerwohnung im Blankwasserweg. Sie lächelte während sie ihr Brötchen mit Honig beträufelte. Gleich an seinem ersten Tag als Seenotretter hatte Sönke das blasse strohblonde Mädchen aus dem dunklen Ostseewasser gezogen und sie bis heute nicht mehr losgelassen. Das war nun schon fünf Jahre her. Sie war inzwischen Krankenschwester in den nahe gelegenen Mutter-und-Kind-Kliniken. Sönke hatte heute seinen freien Tag. Er war ganz und gar in seine Internetbroschüre vertieft. Seit heute hatte er endlich DSL und konnte es nicht erwarten, alles zum Laufen zu bringen. Hastig schlang er sein Spiegelei hinunter und warf Hanna einen entschuldigen Blick zu, während er ins Arbeitszimmer stürzte. Seine Freundin zwinkerte ihm verständnisvoll zu. „Ich gehe dann jetzt mit Silke an den Strand. Du kannst mich ja eh gerade nicht gebrauchen.“ Sönke steckte seinen Kopf aus der Tür und schmunzelte. „Komm nicht so bald wieder!“, flachste er und warf ihr eine Kusshand zu. Sie packte ihre Tasche und schloss lachend die Wohnungstür hinter sich. Eine Stunde später war Sönke in die virtuelle Welt eingetaucht. Er las alles, was er über Seenotretter fand und stieß dabei auf einen seltsamen Link. Er poppte plötzlich einfach so mitten auf dem Bildschirm auf:
http://www.seenot2003soenke.de
Sönke wurde kreidebleich. Sein Name. Und 2003, das Jahr, in dem seine Eltern verunglückt waren. Wie konnte das sein. Mit zitternden Händen schaltete er den Computer aus. Vorher speicherte er den Link aber noch als Lesezeichen ab. Er ging ins Wohnzimmer und starrte aus dem Fenster, sah aber nichts. Was hatte das zu bedeuten? Er wusch die Frühstücksteller in der Spüle ab, ohne zu bemerken, dass er statt Spülmittel Olivenöl benutzte. Er musste raus. Luft schnappen. Draußen ging er gedankenverloren am Haus des Kurgastes vorbei zum Strand und dann entlang der Promenade bis zur Strandhalle, wo die Seebrücke aufs Meer hinausführte. Hier traf er Hanna und Silke und gesellte sich zu ihnen. „Na, schon Muskelkater in den Fingern?“, fragte Hanna. Sönke rang sich ein Lächeln ab und zuckte mit den Schultern. „Ich hatte einfach Sehnsucht nach Dir.“ Ihre warme Hand auf seiner Schulter schaffte es, ihn zu beruhigen. Was immer das auch war, es war jetzt egal. Wahrscheinlich nur ein Zufall. Silke warf ihnen einen wissenden Blick zu und verabschiedete sich grinsend. Händchenhaltend liefen Sönke und Hanna zum Baden ins Meer.
Am nächsten Morgen fuhr Sönke nicht mit aufs Meer hinaus. Es gab einiges an Schreibkram zu erledigen. In den Sommermonaten passierte leider immer viel, so dass zwischen den Einsätzen oftmals keine Zeit für die Büroarbeit blieb. Heute hatte er sich den Tag dafür extra reserviert. Er holte sich einen Cappuccino aus dem uralten Automaten auf dem Flur und rümpfte wie jeden Tag angewidert die Nase. Aber besser als gar nichts. Dann öffnete er eine Schachtel Kekse und setzte sich aufgeräumt vor den Bildschirm, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Während der Computer hochfuhr, pfiff er leise vor sich hin und trommelte mit den Fingern auf den Armlehnen den Takt. Er war allein im Büro. Sein Kollege Frieder hätte ihn spätestens jetzt schief angeschaut und ihn gebeten, Ruhe zu geben. Aber Frieder war auf dem Schiff und so konnte er tun und lassen was er wollte. Als er gerade anfangen wollte, das Einsatzprotokoll vom Freitag zu verfassen, ertönte plötzlich eine quäkende Fanfare und auf seinem Bildschirm poppte ein Fenster auf.
http://www.seenot2003soenke.de – Tritt ein. Du hast keine Wahl!
Seine gute Laune war wie weggeblasen. Hatte er sich das doch nicht eingebildet, wie er es sich gestern immer wieder eingeredet hatte? Woher kam diese Botschaft. Woher wusste jemand, dass gerade er jetzt am Bürocomputer saß? Woher wusste jemand, dass er seit gestern zuhause einen neuen Internetanschluss hatte? Er nahm die Maus in die rechte Hand.
Sönke klickte.
Was sich dann auf dem Bildschirm aufbaute, verschlug ihm die Sprache. Es war ein Computerspiel, kitschig und bunt programmiert, untermalt von gemafreier Billigmusik. Alles sah ganz harmlos aus, wenn da nicht der Titel wäre. „Grömitz 2003: Rette das Segelboot“. Auf der linken Seite des Bildschirms blinkte das Wort „Vorspann“. Er konnte nicht anders.
Sönke klickte.
Das Büro um ihn herum war schlagartig dunkel. Die Sonne schien für ihn nicht mehr. Keine Geräusche drangen mehr an sein Ohr. Jede Zelle seines Körpers war eins mit dem Computer. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Köpfe, ein Mann und eine Frau. Sie erzählten eine grauenhafte Geschichte, wie eine dunkle Wolke ihr Segelboot umschloss und sie beide hilflos zusehen mussten, wie der Mast brach und die hölzerne Kajüte zerbarst. Dann hätten sie nichts mehr gespürt und wären seitdem irgendwo zwischen Leben und Tod gefangen. Die Aufgabe des Spielers war, die Zeit zurückzudrehen, das Segelboot aus der Not zu erretten und so die Seelen der beiden Menschen zu befreien. Eigentlich eine schauerlich-schöne Handlung für ein Computerspiel, wenn da nicht der eine Haken gewesen wäre: Der Mann und die Frau waren Sönkes Eltern.
Mit Tränen in den Augen lehnte er sich einen Moment zurück. Auf dem Bildschirm blinkte das Wort „Weiter“.
Sönke klickte.
Als nächstes erschien die Spielanleitung. Es war eine Auflistung verschiedener Symbole und Tastenkombinationen. Alles war sehr realistisch und glich seinem Arbeitsalltag. Sogar das Steuerpult des Rettungskreuzers glich in allen Details dem seines Schiffs. Unter der Liste stand ein Satz, der Sönke spüren ließ, dass das hier nicht nur ein Spiel war.
Lieber Mitspieler. Mit diesem Spiel hast Du es in der Hand. Rette die Seelen der Verunglückten. Der Weg ist nicht leicht und Dein Einsatz ist hoch – sehr hoch. Press here to start the game!
Sönke war schon längst nicht mehr in dieser Welt. Tränenüberströmt und zitternd sah er verschwommen die blinkende Eingabeaufforderung. Er wusste, dass er keine Wahl hatte.
Sönke klickte.
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10. Mai 2011
„Aber sie müssen doch etwas tun!“ schreit Hanna den Polizeibeamten an. „Er ist noch nie ohne Erklärung über Nacht weggeblieben. Er klang ängstlich am Telefon, aber ich dachte, er würde sich sicherlich noch mal melden. Das tut er immer.“ Ihre Stimme überschlägt sich. Sie ist schon am Büro der Seenotretter gewesen. Das Schiff war fort, die Bürotür verschlossen und die Jalousien heruntergelassen. Der Polizist sieht sie an und seufzt. „Na gut, sie geben ja doch keine Ruhe. Warten Sie einen Moment.“ Er geht zu seinem Schreibtisch, trinkt genüsslich und in Zeitlupe seine Kaffeetasse leer, zieht sich umständlich seine Uniformjacke an und ruft einen Kollegen, der ihn der Form halber begleiten muss. Lustlos führt er Hanna und den Kollegen zu seinem Einsatzfahrzeug und schlägt den Weg Richtung Hafen ein. Auf dem Rücksitz kommt Hanna sich wie eine Gefangene vor. Ist sie schuldig? Hat es vielleicht ganz harmlose Gründe? Vielleicht ein längerer Einsatz? Vielleicht hat er mit seinem Team nach einer erfolgreichen Aktion über den Durst gefeiert und liegt nun, friedlich seinen Rausch ausschlafend, in der Wohnung eines Kollegen? Das alles überzeugt sie nicht. Das Schiff war weg und alles war verrammelt. Nein, irgendetwas ist hier nicht in Ordnung.
Auf der Bank gegenüber dem Anlegeplatz des Rettungskreuzers sitzt ein junger Mann und schaut aufs Meer hinaus. Der Polizist geht auf ihn zu. „Wie lange sitzen Sie hier schon? Haben Sie irgendjemanden an der Station gesehen?“, fragt er den Mann. Dieser schaut müde und verwirrt auf. „Ich sitze seit gestern morgen hier. Ich sitze immer hier, wenn das Schiff ausläuft und warte bis es zurück kommt, um dann an den Gesichtern zu sehen, wie das Drama auf See ausging. Das Schiff ist schon seit gestern vormittag weg und ich habe nur einen Mann ins Büro gehen sehen.“
„Wann war das?“
„Gestern morgen gegen acht Uhr.“
Hanna wird bleich und zittert am ganzen Körper. Sie rennt den Polizisten voraus auf die Station zu und rüttelt schreiend an der Tür. „Sönke! Mach auf! Sönke!“
Der Polizist ist nun auch sicher, das etwas nicht stimmt und tritt die Tür des Büros ein. Durch die geschlossenen Jalousien fällt unruhiges Zwielicht. Auf dem Schreibtisch steht eine angebrochene Schachtel Kekse, sonst ist nichts Auffälliges zu sehen. Von Sönke keine Spur. Beim Verlassen des Büros fällt Hanna auf, dass der Drucker gerade anläuft und ein Blatt Papier auswirft. Sie greift danach und liest, ohne zu verstehen:
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Ein Schauer erfasst sie. In diesem Moment schließt sich eine dunkle Wolke um die Station der Seenotretter. Hanna hört, wie der Anlegesteg zerbirst.
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