Wie Hins und Kuns Silvester verbringen

Raketen

Herr Hins klingelt bei Herrn Kuns. Heute ist Silvester. Neunzehn Uhr dreißig. Die Nachbarskinder von Herrn Kuns sind dermaßen unflätig mit ihren in rotes Pergament gehüllten Schinken der Zeit voraus, dass Herr Hins zwischen dem Geböllere nicht hört, ob es nun in der Villa von Herrn Kuns geklingelt hat. Sicherheitshalber klingelt Herr Hins noch einmal bei Herrn Kuns.

Den ganzen Tag über hatte sich Herr Hins Gedanken gemacht. Wie jedes Jahr. Was sollte sich im neuen Jahr ändern? Man könnte die großen Dinge angehen. Mehr Geld, mehr Frauen, mehr Kinder, weniger wiegen, weniger saufen, ein Haus bauen, eine Weltreise machen, US-Präsident werden. Oder Papst. Aber Herr Hins sieht das anders. Er hat ja Herrn Kuns. Der macht ihm immer wieder vor, wie es sein könnte. Herr Kuns verdient viel, ist groß und schlank, fährt Bentley, ist glücklich verheiratet, leistet sich trotzdem ein Verhältnis, hat zwei Kinder, die bereits flügge und außer Haus sind – einer in Südafrika und eine in Australien – und bereist die Welt. Denn Herr Kuns ist tatsächlich US-Präsident. United Steel Inc. heißt sein Reich, ein internationales Stahlimperium mit Glanz und Gloria. Als Buchhalter dieses Imperiums weiß Herr Hins, dass neben Glanz und Gloria auch Waffen gehandelt werden. Aber das weiß Gloria nicht. Sie weiß auch nichts von Lydmila Glanz, der hübschen russlanddeutschen Sekretärin von Herrn Kuns. Statt dessen hütet sie die viel zu große Villa, putzt, macht und tut, und chattet mit ihren Kindern in der großen weiten Welt, die ihr selbst verschlossen bleibt.

Herr Hins wirft einen Blick auf den schwarzen Bentley in der Einfahrt. Ein Geschenk eines Geschäftspartners. Eines afrikanischen Geschäftspartners. Gloria öffnet die Tür und bittet Herrn Hins lächelnd herein. Luftschlangen streichen ihm durch das Gesicht. Es duftet nach Rosen und Fonduefett. Gut gelaunt erscheint Herr Kuns und reicht Herrn Hins die Hand, wobei er verstohlen aus dem Fenster schielt. Ist jemand vorm Haus? Die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Präsident und Buchhalter muss geheim bleiben. Herr Hins verdankt Herrn Kuns sein spärliches Leben. Als Herr Hins vom Alkohol zerfressen am kalten Boden lag, hat Herr Kuns ihn aufgehoben, ihm Arbeit, Perspektive und Freundschaft gegeben. Während sein afrikanischer Geschäftspartner in seinem Heimatland grinsend seine vielen hübschen Stahlkisten öffnete. Herr Hins weiß warum Herr Kuns seine Freundschaft braucht.

Herr Kuns bittet Herrn Hins in den Speisesaal. Herr Hins, der Herrn Kuns folgt, sieht, dass Herr Kuns noch weiter abgenommen hat. Das riskante Leben auf der Überholspur zehrt an ihm. Beim spritzenden Fondue wird nicht über das US-Imperium gesprochen. Sondern über Herrn Kuns. Und sein Leben. Es gibt viel zu erzählen. Fremde Städte, neue Errungenschaften, die hipsten Bars, die insten Köche. Herr Hins lauscht den Geschichten aus einer anderen Welt und lässt sich fesseln. Herr Kuns entführt ihn in das Leben, das er nicht haben kann. Herr Kuns ist betrunken. Das Leben, das er nicht haben will, denkt Herr Hins. Er trinkt seinen Champagner und denkt dabei an den guten Single Malt, den er sich lange vom Munde abgespart hat und der nun in seiner kleinen Küche in seiner kleinen Wohnung in seiner kleinen Welt auf ihn wartete.

Herr Kuns lässt seinen Butler ein Feuerwerk abfackeln, das die vorlauten Nachbarskinder endgültig zum ehrfürchtigen Schweigen bringt. Statt dessen Händel. Feuerwerksmusik. Gloria und Herr Hins denken melancholisch an das vergangene Jahr. Herr Kuns denkt bei den Explosionen an geschäftliche Dinge. Danach verabschiedet sich Herr Hins von Herrn Kuns und Gloria. Herr Kuns muss morgen früh raus. Geheime Neujahrssitzeung im Vorstand. In Afrika feiert man kein Neujahr.

In seiner kleinen Wohnung in seiner kleinen Welt zündet Herr Hins Kerzen an, holt den Whisky aus seiner kleinen Küche und schenkt sich ein Glas ein. Er lässt sich in seinen Lieblingssessel fallen und denkt wieder an die guten Vorsätze. Nein. Er ist zufrieden. Keine Vorsätze. Er schaut auf die Uhr. Dann zur Tür. Es klingelt. Doch, einen Vorsatz gibt es. Er öffnet die Tür. Lächelt. „Komm rein, Gloria. Möchtest Du ein Glas Whisky?“

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